Auszüge aus Hans Heyns Zeitungsartikel von 1979: „Die Itakerhöfe im Chiemgau“

„Itakerhöfe“, wie der Volksmund die Anwesen nennt, sind nicht unscheinbare Bauten, sondern außergewöhnlich stattliche Hof­formen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts erbaut wurden. Es lebt kein Handwer­ker, kein Polier, kein Baumeister mehr, der aus persönlichem Erleben noch über das Auftauchen dieser Hofform sowie über die Baugeschichte berichten könnte. Nirgendwo sind Papiere aufzutreiben, die Aufschluss geben könnten. Was bleibt, sind die Höfe, die vom Material und der Ausführung her höchsten Ansprüchen genügen. Architektonisch weisen sie Eigengesetzlichkeiten auf, die sie von den Bauernhöfen der südost-bayerischen Hauslandschaften, angefangen bei der Außenansicht, über den Fletz (Flur), die Stuben, die Treppen bis hinauf zum Dachboden unterscheiden.
Es wird kaum mehr nachprüfbar sein, wann die Bezeichnung „Itaker“ erstmals im altbairischen Raum für „Italiener“ im Sprachgebrauch auf­taucht. Volkskundler, die Berichte aus der Zeit vor der Jahrhundertwende überliefert haben, verwenden sie noch nicht. Dabei gab es um 1850 hier bereits eine Vielzahl von Saisongän­gern, die aus Welschtirol, Istrien, der Lombardei und anderen Provinzen in der warmen Jahreszeit einwanderten. Der Mausfallenhandler, der Scheren­schleifer, die Lemonifrau, der Wetzstoahandler, der Kranawittsulzhandler und der Wagenschmierführer zählten dazu.
Neben den Handeltreibenden gab es Arbeiter. Sie bauten Straßen, vor allem aber die Schienenkörper der Eisenbahnstrecken München und Salzburg. Die Kunstmühle in Rosen­heim mahlte 1860 Mais, der als Polenta ein Grundnahrungsmittel der Gast­arbeiter war. Daneben gab es in Prien am Chiemsee Ziegelei-Arbeiter, vor allem aber Maurer, die im Frühjahr über die Alpen kamen, in kleinen Gruppen eine Art Bautrupp bildeten und von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf ihre Dienste anboten. Diese Fakten sind gesichert. Es ist aber kein Name überliefert, es gibt keine Grabinschrift (dafür liegt der Zeitraum zu weit zu­rück), aus denen ein konkreter Hin­weis auf die Erbauer der Itakerhöfe abzuleiten wäre.

Baustil

Itakerhöfe sind im Baustil und im Baumaterial so typisch, dass sie von jedermann auf den ersten Blick erkennbar sind. Eine großzügige Konzeption ist der Grundzug. Die durchschnittliche Firsthöhe beträgt 12 Meter. Die Traufhöhe misst 8,50 Meter. Der Türstock, vor allem aber die Fenster sind höher als bei den anderen Bauernhaustypen im Chiemgau.

Ungewöhnlich ist auch die Fen­sterzahl. So weist die Frontseite des Moarhofs in Dirnsberg auf der Ratzingerhöh 20 Fenster auf. 56 Fenster sind am Hof beim Peterschmied in Natzing bei Eggstätt zu zählen. Der optische Eindruck jedoch ist irrefüh­rend. Die Itakerhöfe täuschen ein Erdgeschoss und zwei Obergeschosse (E+ 2) vor. In Wirklichkeit ist das zweite Obergeschoss der Troadboden, der lediglich nach außen, wegen des guten Eindrucks und aus einem Stil­empfinden heraus, mit Sprossenfenstern und Fensterladen ausgestattet worden ist.

Mauertechniken


Das zweite Merkmal ist das Mau­erwerk. Es bildet ein Konglomerat an Steinen. Ursprünglich war es unver­putzt. Höfe, wie der vom Mögl in Rimsting und "Beim Schneider" in Giebing bei Hittenkirchen, wo die Fronten verputzt und geweißt sind, bilden heute die Mehrheit. Das Mau­erwerk wirkt, wie bei dem im Inntal vorkommenden Biberstein, gespren­kelt.


Fletze wie Tanzböden

Das Mauerwerk setzt sich außer den Schlackensteinen, die optisch vor­herrschend sind, aus verschiedenen Gesteinsformen zusammen. So sind die gewölbten Fensterstürze in Zie­geln gemauert. Beim „Schtiadaringer“, dem erst 1920 fertig gestellten Hof des Summerer in Stiedering, am Südhang der Ratzinger Höh, fallen im Fundament riesige Quader auf. Es sind Steinblöcke, die beim Bau von Schloß Herrenchiemsee keine Ver­wendung mehr fanden und liegen blie­ben. Der Bauer hat sie, teilweise Block für Block, in einem Eiswinter über den zugefrorenen See gefahren. Für das Aufladen hatte er sich, weil er allein unterwegs war, ein besonderes Verfahren ausgeklügelt. Er hing die Steine unter den Wagen, was ihm Beladen erleichterte.

Wer erstmals in einen Itaker kommt, ist überrascht über die Großzügigkeit der Anlage. Der Fletz, Hausgang, hat zuweilen 3,60 m Breite und misst in der Länge von Stallwand bis zur Haustür 12 Meter. Die Decke hat eine Mindesthöhe von 2,70 Metern. Die Maße der Fletze sind so stattlich, dass der Hausflur beim Moar in Dirnsberg schon von Volkstanzgruppen zum Musizieren und Tanzen genutzt wurde.

Mögl in Rimsting


Die Decken schmücken vielfach Gewölbe, die der Volksmund summarisch und irreführend „Böhmisches Gwölb“ nennt. Das in Korbbogenform gespannte Tonnengewölbe beim Mögl in Rimsting spricht für das architektonische Augenmaß des Baumeisters. Der Fletz erreicht hier 3,15 Meter Höhe. Beim Moyer in Stetten misst die Küche 3,20 Meter Höhe. Die weitgespannten Bögen drücken optisch das Maß. Der Flur wirkt in seinen Proportionen ausgewogen. Eine besonders schöne Deckenform besitzt mit dem Preußischen Kappengewölbe der Keissnhof der Familie Milkreiter in Waldering. Das Anwesen liegt an der Straße Rosenheim-Endorf. Vielfach setzt sich das Gewölbe im Stall fort. Einige Bauern haben es herausreißen lassen und dies (nicht nur der „Hundsarbeit“ wegen) bereut.

Stuben wie Säle

Die Stuben sind in ihren Raum­maßen so großzügig ausgelegt wie der gesamte Hof. Wiederum überrascht die Raumhöhe, die zwischen 2,70 und 3,10 Metern liegt. Die Vermutung ist naheliegend, aber, wie die mutmaßli­chen italienischen Baumeister, ist es nicht erwiesen, dass hier oberitalieni­sche Architekturgewohnheiten in den Nordalpenraum übertragen wurden. Hohe Räume, die im warmen Süden eine Notwendigkeit sind, erweisen sich hier als Nachteil. Die Zimmer, die teilweise Saalcharakter besitzen und mit dem Begriff Stube kaum noch etwas gemeinsam haben, sind schwer zu heizen. Manche Bauern haben dar­um die Decken mit Holz abgehängt. Die Bäuerin vom Moar in Dirnsberg, die in einem alten Chiemgauer Bau­ernhof aufgewachsen ist, in einen Itakerhof einheiratete und vor einem Jahr einen Aussiedlerhof bezogen hat, sagt: „die Winter waren im Itakerhof ungemütlich kalt“.
Küche und Stuben sind vielfach unterkellert. Die Raumhöhe wurde auch in der Fletzkammer - das ist ein der Stube gegenüberliegender Raum - sowie in allen anderen Zimmern, bei­behalten. Zu den Charakteristiken der Itakerhöfe gehört die Helligkeit in den Räumen, die sich bis in den Troadboden fortsetzt. Die Fenster sind hoch, und haben eine schräge Laibung, die als Lichtblende wirkt. Die Fenster­stöcke wurden teilweise mitgemauert, das heißt, nicht eingesetzt, sondern durch Ziegel und anderen Verbund in das Mauerwerk voll integriert. Diese Erfahrung machte ein Bauer, der mit viel Mühe, der Mode folgend, die Sprossenfenster gegen Einscheiben­fenster austauschte. Er sagt heute: „Mia ham nix gwonna dabei.“ Ein Besuch erklärte ihm drastisch an Weihnachten 1978:  „Ihr habt dem Haus die Augen ausgestochen“.
Am Rande stellt sich die Frage, ob um 1870, der Hauptbauzeit der Itakerhöfe, diese Hofform einer bür­gerlichen Modeerscheinung gefolgt ist? Der Verdacht kommt auf, weil Peter Rosegger zur selben Zeit in seiner Zeitschrift „Heimgarten“ ge­gen „Hohe Wohnzimmer“ wettert. Er schreibt: „Unsere neuen Baumoden sind nicht immer glücklich . . . Unter vierzehn oder fünfzehn Fuß Höhe will's keiner mehr tun . . .“

Idealmaß im Treppenhaus

Die Treppen zum Obergeschoss sind im Itakerhof großzügig, in ihrer Architektur geradezu herrschaftlich angelegt. Beim Moar in Dirnsberg schwingt das Geländer im Halbstock nach oben. Mit einem Schrittmaß von 62 Zentimetern und einem Steigungs­verhältnis der Stufen von 17:29, das da und dort noch unterschritten wird, wurden ideale Maße und damit ein Höchstmaß an Sicherheit erzielt. Sol­che Treppen kann man kaum hinun­terfallen

Nahe der Scheinarchitektur

Die Dachstühle der Itakerhöfe sind Meisterstücke der Baukunst. Charakteristisch sind ihre Fenster. Sie wurden entweder als Hochfenster so ausgeführt, dass sie in der Außenan­sicht noch ein Wohnstockwerk vortäu­schen oder, bei kleineren Höfen halb­bogenförmig als sogenannte Aqua­rienfenster. So schmuckreich teilweise die Giebelfenster beim Itakerhof ausge­führt sind, sie dienten auf dem Dach­boden nicht der Aussicht in die Land­schaft. Nur Kinder können stehend durch sie das Umland sehen. Der Blick von größeren Personen trifft in Augenhöhe auf das unterste Dachbal­kenwerk. Beide Fensterformen rei­chen bis zum Fußboden herab. Zwei Gründe sprechen für diese Anord­nung. Das Tageslicht wird optimal genützt. Die Proportionen sind in der Außenansicht gewahrt. Wiederum wird, um das Maß einzuhalten, mit einem kleinen Trick gearbeitet: Unter allen Fenstern der oberen Stockwerke läuft ein Mauerband die Hauswand entlang, gleichgültig, ob die Fenster in gewohnter oder in Fußbodenhöhe an­geordnet sind. Die Bänder drücken, da sie am Fensterfuß gezogen sind, die Höhe des Hofes. Die Anwendung rückt bereits in den Bereich der Scheinarchitektur. Während heute, insbesondere bei Aussiedlerhöfen, vielfach nur nach wirtschaftlichen Überlegungen geplant und gebaut wird, und dabei Grundgesetze architektonischer Ästhetik verletzt werden, bewiesen die Baumeister der Chiemgauer Itakerhöfe ausgeprägten Sinn für Proportionen. Auch Balkon und Altanen hätten diesem Bemühen entsprochen.

Troadboden beim Mögl

Tritt- und luftschallfest

Die Dachböden reichen über die gesamte Hausbreite. Der Lichteinfall erfolgt von drei Seiten. Das Flächenmaß eines solchen Troadbodens erreicht hundert und mehr Quadratme­ter. Die Baumeister haben trittschall- und luftschallfest gebaut. Dazu wurde die Oberkonstruktion von der Unter­konstruktion getrennt. Die Dämmung erfolgte durch zwei Balkenlagen. Der obere stärkere Balken hat die Lasten zu tragen. Daneben ist im Abstand ein schwächerer Balken eingezogen. An ihm ist die Decke befestigt. Die Erfah­rung, dass zwei nicht untereinander verbundene Bodenkonstruktionen ei­nen guten Schallschutz bilden, war der zeitgenössischen Wohnhausarchitek­tur verlorengegangen. Hier glaubte man jahrelang Einsparungen erzielen zu können, die jedoch das Zusammen­leben insbesondere von Mietern in großen Wohneinheiten erschwert ha­ben. Den Effekt des schwimmenden Estrichs erzielten die Besitzer dieser Hofart früher durch Streu, das entwe­der schon beim Bau als Bodenfutter verwendet wurde, vielfach aber auch - wie Proben ergaben - durch die Bret­territzen in die Hohlräume fiel und diese auffüllte. Einer möglichen Mäu­seplage begegnete man durch Halten mehrerer Katzen.

Stilistischer Wandel

So stattlich und rar die Itakerhöfe sind, die nie im Ensemble auftreten, sie haben im Zeitraum von nur hun­dert Jahren einen stilistischen Wandel erlebt.
Viele Bauern störte die gesprenkelte Mauer. Das Haus wurde heruntergeputzt, die helle Kalkwand verschiedentlich mit Ornamentik ver­ziert.
Beim "Simmern z'Schtehn", dem Fritz in Stetten, ist das Bemühen, den Itakerhof dem zeitgenössischen Chiemgauer Bauernhaus anzupassen, gut sichtbar. Bäuerliches Nutzdenken und Schönheitssinn haben das Haus den Bedürfnissen und dem Ge­schmack der Zeit entsprechend verän­dert. Der Hof besitzt heute Balkone. An den Türen, die auf sie münden, ist das Mauerband unterbrochen. Das Haus ist „geweißt“, Lüftlmalerei nennt an der Firstseite auch den Haus­namen und das Baujahr.


 


Itakerhöfe bestimmen kein Dorfbild

Für den Itakerhof ist kennzeich­nend, dass er im ganzen, bisher nachgewiesenen Verbreitungsgebiet kein Ortsbild bestimmt. Immer tritt er als Einzelerscheinung auf. Es findet sich kaum ein stilistisch verwandter Nach­bar. Höfe dieser Größenordnung und mit dem hier erkennbaren repräsen­tativen Anspruch, erforderten zum Bau ein Vermögen. Reich waren zu damaliger Zeit vor allem im Chiemgau einige Samerbauern. Ein Obersamer war in Rimsting der Möglbauer. Er besaß eine Stückzahl von mehr als tausend Säcken, für die er Lagerflächen brauchte. Hier ist eine Erklärung zu finden, warum die Dachböden der Itakerhöfe so weiträumig angelegt wurden.
Für den Moar von Dirnsberg, den schön­sten, in seiner ursprünglichen Form belassenen Itakerhof, trifft dies nicht zu. Das Anwesen, das heute land­wirtschaftlich nicht mehr genutzt wird, hat einen Besitzer gefunden, dem ohne offiziellen Denkmalschutz am Erhalt gelegen ist.

 

Der Moar von Dirnsberg


Das bisher nachgewiesene Ver­breitungsgebiet der Itakerhöfe liegt im westlichen Chiemgau. In Nordsüdsicht sind von der Chiemgauer Seenplatte bei Eggstätt bis an den Fuß der Kampenwand und - von Osten nach Westen - zwischen Prien und Rosenheim, bisher zwei Dutzend Itakerhöfe nach­gewiesen.
Der letzte Hof, der in die­sem Stil aufgeführt wurde, ist das Anwesen des "Schtiadaringa", des Summerer in Stiedering, Baujahr 1920. Als früheste Bauzeit ist bisher beim Moyer in Hochstätt das Jahr 1848 verbürgt. Da die Bauernhausforschung bisher diesen Hoftyp nicht er­wähnt und die hier veröffentlichten Recherchen nicht vollständig sind, ist eine weitere Verbreitung der Itaker­höfe wahrscheinlich.

Quelle:
Hans Heyn, Die Itakerhöfe im Chiemgau, in: Charivari, Februar 1979, S. 61 ff

Ein weiterer Artikel von Hans Heyn, Die Itakerhöfe der Hörndl- und Körndlbauern, in Bauen und Wohnen wurde nicht herangezogen, da er keine neuen Erkenntnisse beinhaltet.