Auszüge aus Hildegard Merzenichs Untersuchungen von 1983: „Itakerhöfe“ - ein Mißverständnis

Eine besonders stattliche Hofform des südöstlichen Oberbay­erns, deren Entstehung vorwiegend in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert wird, erweckte Ende der 70er Jahre nicht nur das Interesse populär-heimatkundlicher Natur, son­dern gab hinsichtlich Herkunft, Entwicklung und Bezeich­nung auch Anlass zu großen Missverständnissen. Begünstigt wurden diese Aktivitäten von der bisher zu beob­achtenden weitgehenden Abstinenz der volkskundlichen For­schung auf wissenschaftlicher Basis für die diese Hofform. In diesem wissenschaftlichen Vakuum entstand unbelastet von systematischen, auf eingehenden Quellenstudien fußenden Analysen die ungemein griffige, gleichwohl unhaltbare Bezeichnung „Itakerhof" einschließlich einer sie stützenden „Theorie" ihrer Entstehungsgeschichte, die - wie im folgenden zu zeigen sein wird - einer Nachprüfung mit wissenschaftli­chen Methoden nicht standhalten kann.

Anlass und Bedeutung der Beschäftigung mit dieser Bauweise bestehen darin, dass die Erklärungsversuche zu dieser Hofform ein Musterbeispiel dafür abgeben, wie durch unzulässige Interpretationen histori­scher Erscheinungen und durch hochspekulative, von Wunschdenken getragene „Begriffsbildungen" die seriösen volkskundlichen Bemühungen um eine gesicherte Weitergabe historischer Fakten an breite Bevölkerungsschichten Schaden nehmen können. Dies um so mehr, als - abgesehen von den Medien - sogar Archive, Landesämter, Volkshochschulen und neuerdings Diplom- und Facharbeiten sowie heimatkundelnde Veröffentlichungen, den Terminus „Itakerhof“ über­nommen haben und die vermeintliche Entstehungsgeschichte glauben.
Die Anwendung der deduk­tiven Überprüfungsmethode von Hildegard Merzenich führte eindeutig und überzeu­gend zur Zurückweisung der „Theorie vom Itakerhof". Und zwar aus folgenden Gründen:

1.  Die Analyse der Baupläne des Bestandes Wasserburg im Staatsarchiv München (rd. 5000 Stück) aus den Jahren von 1872-1913 sowie der Plansammlung Riepertinger (rd. 200 Baupläne, Vorzeichnungen, Skizzenbücher, Mappe skizzier­ter Kirchen etc. von 1817 an) ergab, dass die meisten Bauvorha­ben einschließlich der betreffenden Hofform ausschließlich von einheimischen Zimmer- und Baumeistern (Architekten) verantwortlich geplant und meist von diesen selbst mit einheimischen Maurer- und Zimmerpolieren ausgeführt worden sind.
Damit ist die Hypothese, dass italienische Baumeister und Wanderarbeiter als Planer und Urheber der betreffenden Hof­form (gemauerter Einfirsthof mit Kniestock) in Frage kämen, eindeutig widerlegt.
Eine andere als die ermittelte Handhabung hätte im übrigen das seinerzeit geltende Baurecht nicht zugelassen. Gemäß § 79 der „Königlich Allerhöchsten Verordnung, die allgemeine Bauordnung betreffend" vom 8. Juli 1864 (Bauordnung 1864) war die Einreichung eines Bauplanes auf die berechtigten „Planfertiger" beschränkt. In ähnli­cher Weise hatte schon die „Instruktion für die Baukommis­sion der Residenzstadt München" vom 9. März 1805 hinsicht­lich der Bauvorlagenberechtigung (in Duplo) die Maurer- und Zimmermeister von München privilegiert.

2.    Die Analyse der Baupläne zeigt darüber hinaus den für die Hausforschung interessanten Sachverhalt, dass für einen bestimmten Bereich eine dominierende Zuständigkeit eines Baumeisters bestand, die offensichtlich vom Vater auf den Sohn überging: Im Falle Alteiselfing waren es über 200 Jahre u.a. die Riepertinger, deren Wirkungskreis — wie Ferdinand Steffan festgestellt hat - im Süden bis Griesstätt reichte und bei Wasserburg seine Grenze fand. Ihre Entwicklung geht vom Zimmermeister bis zum Architekten. Damit ist auch eine Verbindung zwischen den bürgerlichen Bauformen in den Städten und auf dem Lande hergestellt und deren Auftreten im ländlichen Raum erklärbar.

3.    Die Plan- und Skizzensammlung Sebastian Riepertingers lässt darüber hinaus ab 1817 eine direkte Entwicklung zu den bekannten Erscheinungsformen der stattlichen Höfe erken­nen, die 1839 zur Planung eines Neubaus in Holzhausen bei Wasserburg führt, der bereits alle Elemente auch später reali­sierter Höfe dieses Typs aufweist. Auch insofern ist die Legende vom italienischen Baumeister überzeugend widerlegt.

4.    Zwar ließ sich die Beschäftigung italienischer Bautrupps bei der herangezogenen Hofform nicht nachweisen, selbst wenn jedoch des öfteren derartige Wanderarbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts an


Bauarbeiten beteiligt gewesen sein sollten, konnten sie keineswegs selbständig „stilbildend" gewirkt haben. Wie die Pläne des Wasserburger Bestandes im Staatsar­chiv München, aber auch die Skizzen und Vorzeichnungen des Familienbestandes Riepertinger ausweisen, waren nämlich bereits die Details der Bauausführung im wesentlichen festge­legt. Berücksichtigt man wiederum die Strenge des damals geltenden Baurechts und die Vollzugspraxis, sind eigenmäch­tige Planabweichungen völlig auszuschließen.

5.    Die betreffende Hofform vom Typ „Voralpenländischer gemauerter Einfirsthof mit Kniestock" lässt darüber hinaus typisch italienische Stilelemente nicht erkennen; auch insofern ließen sich entsprechende Hypothesen nicht bestätigen. Im Gegenteil: Geradezu unitalienisch muss die Tageshelle auf­grund der Vielzahl von großen Fenstern (bis zu 130) - oft ohne Fensterläden - erscheinen, was dem italienischen Bauern- und Landhaustyp völlig widerspricht, der bekanntlich zum Schutz vor der Sonne mit einer geringen Zahl von Fenstern, im tiefen Süden teilweise sogar ohne Fenster auskommt. Wenn die Urheber der Legende vom Itakerhof in gewissen Details Ähnlichkeiten mit Bauernhäusern in Friaul feststellen zu kön­nen glauben, so beruhen diese allenfalls auf dem Einfluss der österreichischen
Herrschaft in Friaul - und nicht umgekehrt, worauf die einschlägige italienische Bauernhausforschung hinweist.

6.    Bleibt noch die Berufung auf den „Volksmund": In diesem Zusammenhang ist bereits die diesbezügliche Behauptung in sich widersprüchlich (s.o.). Darüber hinaus blieben sprach­wissenschaftliche Nachforschungen ohne Erfolg. Die Bezeich­nung „Itaker" als Synonym für Italiener ist bei der Bevölke­rung des Chiemgaus nicht gebräuchlich. Vielmehr handelt es sich um eine abwertende Bezeichnung aus dem Sprachschatz der Donaumonarchie.

Insgesamt erweist sich somit die untersuchte Begriffsbildung als Bezeichnung für eine Spezies stattlicher Einfirsthöfe des 19. Jahrhunderts mit einfacher Architekturgliederung und meist hoher Mezzaninzone (Zwischen- bzw. Obergeschoss) als untauglicher Erklärungsver­such. Da eine lückenlose Nachprüfung der Entstehung aller dieser Höfe - zumindest im Bestand Wasserburg - dank der überlieferten Bauakten möglich ist, kann aufgrund der über­zeugenden Falsifizierungsergebnisse nicht länger von einer solchen unzutreffenden Bezeichnung ausgegangen werden. Vielmehr würde eine Bezeichnung der angesprochenen Hof­form als „bürgerliches Bauernhaus" den historischen, wirt­schaftlichen und sozialen Hintergründen eher gerecht werden. Freilich wäre eine derartige Bezeichnung weniger spektakulär und weniger griffig und ließe sich nicht publikumswirksam ausschlachten. Keineswegs handelt es sich bei den Baumeistern dieses Haustyps um die italienischen oder italienischstämmi­gen Bauleute (Muratori) und Dekorationskünstler früherer Zeiten. Hier dagegen waren es einheimische Baumeister.
Nicht zu verges­sen ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei Bauernhöfen primär um Zweckbauten handelt, die jeweils die herrschende Bewirtschaftungsform zu berücksichtigen haben.
Vor spekulativen Irrungen auf dem Gebiet der jüngeren Hausforschung schützt mit Sicherheit das Studium von Bauakten, das nur bestens empfohlen werden kann. Allerdings haben vor den Erfolg auch in diesem Fall die Götter den Schweiß gesetzt - oder besser gesagt - den Staub der Archive.

Anmerkung:
Siehe dazu Hildegard Merzenich, Itakerhöfe – ein Mißverständnis. In: Schöne Heimat 72 (1983)