Auszüge aus Martin Ortmeiers Buch (1995): „Per Handschlag – Die Kunst der Ziegler“

Die Sache mit den „Itakerhöfen"


Ziegel zu kaufen, wäre einem Bauer als Verschwendung angekreidet wor­den. Denn fast überall gab es die Möglichkeit, eine Lehm­grube aufzumachen und von ein paar Tagelöhnern Lehm stechen, Ziegel schlagen, trocknen und brennen zu lassen.
Ältere Bauersleute können sich an diese kleinen Trupps junger Italiener noch erinnern, die vom Frühjahr bis zum späten Herbst bei den Bauern untergebracht waren und arbeiteten: Ziegel machen, mauern und — das war meist die letzte Arbeit vor Einbruch des Winters - Lehm ste­chen, der den Winter über ausfrieren sollte.
Nun hat sich die Annahme eingebürgert, den Italienern sei nicht nur das Fertigen der Ziegel, sondern im Rottal und den angrenzenden Landstrichen auch die Erbauung der markanten Blankziegelhöfe zuzuschreiben. Von „Ita­lienerhöfen" und „Itakerhöfen" ist die Rede.
Wir haben das Bedürfnis, den Begriff „Itakerhof“ in An­führungszeichen zu setzen.
„Itakerhöfe" liegt offenbar so weit neben einer zutref­fenden Bestimmung, dass wir nur „sogenannt" von ihnen sprechen können. Denn wir meinen erstens nicht Itaker, sondern Italiener: Wie sollte der abwertende Name, der den Italienern vor allem nach dem Weltkrieg 1914/18 zu­geteilt wurde, zu dem Stolz passen, den die Bauern auf ihre Ziegelhöfe pflegten. Wir meinen zweitens nicht die Höfe italienischstämmiger Bayern die es durchaus gab und gibt. Wir meinen allenfalls solche, die von Italie­nern gebaut wurden.
Dass es über einen Begriff wie diesen einen fachlichen Disput gab, ist leicht zu verstehen. Den zuvor locker und wohl selten gebrauchten Namen „Itakerhof“ oder „Italie­nerhof“ hat als einer der ersten Hans Heyn in die Diskus­sion eingebracht, als er in der populären Zeitschrift „Charivari" über „Die Itakerhöfe im Chiemgau" schrieb. Kurz darauf berichtete er im Oberbayerischen Volksblatt" über „Die Itakerhöfe der Hörndl- und Körndlbauern" und 1981 war im „Bayerischen Bauernkalender" von ihm zu lesen: „Oberbayerns italienische Bauernhöfe. Südländische Einflüsse in einer Hauslandschaft des Nordalpen­rands". Heyn nimmt an, dass die italienischen Gastarbei­ter „stilbildend wirkten".
Mit gutem Grund hat darauf­hin Hildegard Merzenich in der Zeitschrift „Schönere Heimat" 1983 die Tatsachen zurechtgerückt. Sie belegt an Hand von Bauplänen der betreffenden Zeit, „dass die meisten Bauvorhaben einschließlich der betreffenden Hofform ausschließlich von einheimischen Zimmer- und Baumeistern (Architekten) verantwortlich geplant und ausgeführt worden sind".
Der Name „Itakerhof' ist falsch, und falsch ist auch die Annahme, dass wir stilbildende Leistungen italienischer Gastarbeiter an Bauernhöfen des neunzehnten Jahrhun­derts wahrnehmen könnten. Aber sehr richtig ist die Auf­merksamkeit, die diese populären Veröffentlichungen von Hans Heyn und anderen auf Bauten gerichtet haben, die zuvor von der Forschung gering beachtet wurden. Den beschriebenen Bautyp gibt es, und er ist beachtenswert. Merzenich nennt den „Itakerhof das „bürgerliche Bauernhaus". Mit diesem Begriff lässt sich arbeiten, wenn­gleich er viel mehr Bauten des neunzehnten Jahrhunderts  erfasst, als der Terminus „Itakerhof".
Die Literatur über „Itakerhöfe" widmet sich den imposanten Einfirsthöfen Ostoberbayerns, vor allem des Chiemgaus. Wohnung, Stall und Stadel sind hintereinander unter einem Dach vereint. Es handelt sich also um Wohnstallstadelbauten, die meist ganz beträchtliche Längen erreichen.

Es gibt Einfirsthöfe auch in Niederbayern, jedoch nicht in den bäuerlichen Dimensionen, die für das Mitterstallhaus Ostoberbayerns beschrieben wurden. Die Wohnstallstadelhäuser des Bayerischen Waldes sind kleinbäuer­liche Mitterstallbauten, die des südlichen Niederbayern sind vor allem Mittertennbauten, die über das Hofmaß der Solde kaum hinausgehen.

 

Zweckentfremdeter Kuhstall

Lehm und Polenta


Für den Bau von Kirchen, Klöstern und profanen Re­präsentationsbauten waren bereits im 17. und 18. Jahr­hundert italienische Spezialisten nach Norden gereist - Baumeister, Stuckateure, Fresskanten, Gewölbebauer.
Ihnen folgen im 19. Jahrhundert industrielle Lohnar­beiter. Die deutsche Wirtschaft braucht Arbeitskräfte von außen, als mit zunehmender Industrialisierung der Bedarf trotz massenhafter Landflucht kaum mehr zu decken ist. Die Städte wachsen, Fabriken, Straßen, Bahnlinien ent­stehen. Das Bauwesen boomt. Und wieder sind es Italie­ner, die geholt werden.
Die meisten der Ziegel- und Bauarbeiter kommen aus dem Friaul, speziell der Gegend um Udine und Tarcento. Buia, ein keiner Ort nahe Udine hat besonders viele Ziegler hervorgebracht - das dortige Kriegerdenkmal er­zählt, dass unter 135 im ersten Weltkrieg gefallenen Män­nern 101 Ziegler waren. Über mehrere Generationen hat es sich zu einem Zentrum der Ziegler entwickelt - und die meisten von ihnen machen sich alljährlich im Frühjahr auf den Weg nach Germania , um dort zu arbeiten. Ein ehemaliger Gemeindeangestellter berichtet, er habe im März des Jah­res 1907 über 800 Pässe abgestempelt.
Um die Weihnachtszeit beginnen die Akkordanten im Friaul Arbeitskräfte für die kommende Saison zu rekrutie­ren. Dann tauchen sie in den Osterien der Gegend auf und halten Hof, beeindruckend ausstaffiert mit Melone, Spa­zierstock und auffälligen Taschenuhren.
Sich ihnen dort als Arbeitskraft anzubieten heißt, ebenso ironisch wie nüchtern, „die Haut verkaufen ge­hen". Wer zusagt, erhält einen kleinen Vorschuss, der vereinbarte Arbeitslohn beinhaltet neben einem Geldbe­trag auch Verpflegung, sowie Strohsack und Zudecke zum Schlafen. Ein paar Daten ins Notizbuch eingetragen, der Handschlag des Akkordanten - und der Vertrag ist per­fekt.
Manchmal erscheinen auch Anwerber von jenseits der Alpen auf Jahrmärkten und Dorffesten im Friaul. Sie sind leicht zu erkennen an Gamsbart und Porzellanpfeife, vor allem aber an ihren dickgefüllten Portemonnaies, aus de­nen sie die Vorschüsse bezahlen.

Bis 1877 legen die italienisch-bayerischen Pendler ih­ren Weg zu Fuß zurück. Über Plöckenpass (Monte Croce di Carnico), Großglockner und Salzburg beträgt die Rei­sezeit nach Bayern 7-8 Tage. Östlich davon verläuft eine Route über Tanisio und Villach nach Österreich. Die Zie­geleien Kärntens und der Steiermark liegen für Friulaner am günstigsten, manche reisen aber auch bedeutend wei­ter - nach Böhmen, Ungarn, Slawonien oder einem ande­ren der vielen zur Donaumonarchie gehörenden Länder.
Teilstrecken in den Karnischen Alpen können mit Fuhrwerken zurückgelegt werden, die kleinere Transport­unternehmen entlang der Hauptrouten anbieten. Die Wa­gen fassen 20-30 Personen, Kinder in der Mitte, und be­sitzen meist ein provisorisches Dach aus Strohmatten. In Richtung Steiermark wird teilweise die Drau als Verkehrs­weg genutzt und mit - manchmal hoffnungslos überlade­nen - Flößen befahren.
Den weitaus größten Teil der Strecke aber müssen die Reisenden zu Fuß zurücklegen. Und so überqueren sie in Holzschuhen, um die „guten" zu schonen, alljährlich zwei­mal die Alpen, einen Sack mit Habseligkeiten geschultert. Einer aus dem Trupp trägt den großen Kochkessel auf dem Rücken, so dass abends immer die Polenta zubereitet werden kann. Ansonsten gibt es zu essen, was entlang des Weges wächst oder gefangen werden kann.
Da die Padroni jenseits der Alpen komplette Arbeits­brigaden anheuern, stellen sie, vor allem in der ersten Zeit, keine Geräte. Das bedeutet, dass Schaufeln, Hacken und anderes Gerät mitgenommen werden müssen. Selbst die hölzernen Schubkarren werden Meter für Meter über die Alpen geschoben — beladen mit dem, was nicht getragen werden kann. Manchmal bringen sie sogar ein wenig Geld, wenn unterwegs „Zuladung" aufgenommen und vielleicht einer Bäuerin ein schwerer Kartoffelsack transportiert werden kann.
1872 verkehren die ersten Züge zwischen Villach und Tarvisio, 5 Jahre später erhält Udine eine Bahnstation und damit Anschluss an die Pontebbabahn. Die Reisezeit nach Bayern verkürzt sich auf 2 Tage.
„El treno dai furlans" - der Zug der Friulaner, von den Bayern auch „der Wälschezug" genannt, ist immer übervoll und überlang. Wenn nach Ostern im Norden die Ziegelsaison beginnt, werden Sonderzüge eingesetzt. Trotzdem kommt es vor, dass Arbeiter ganze Tage auf Bahnhöfen warten oder ihre Reise zu Fuß fortsetzen müssen.

Die Arbeit in den Handschlagziegeleien ist nicht leicht. Gelenksentzündungen, Rheumabeschwerden, Tuberku­lose und andere gesundheitliche Schäden sind häufige Folgen. Frauen, vor allem aber Kinder, übernehmen die körper­lich weniger schweren Tätigkeiten. Manchmal bilden ganze Familien ein Team, der Stampatore an der Spitze, Frau und Kinder arbeiten ihm zu. Der Erfolg eines Teams hängt entscheidend von der Qualität seiner Zusammenar­beit ab - je besser die einzelnen Arbeitsschritte koordi­niert sind, je reibungsloser der Gesamtablauf, desto besser das Akkordergebnis.
Die italienischen Ziegler können mit enormen Leistungen aufwarten - ein guter Stampatore schafft mit seinem Team bis zu 6000 Ziegel am Tag - für deutsche Kollegen ein unerreichbares Ergebnis. Es man­gelt ihnen an Erfahrung, Geschicklichkeit und Improvisa­tionstalent, aber auch an der Arbeitswut, die die Friulaner an den Tag legen — motiviert von der zeitlichen Begren­zung ihrer Verdienstmöglichkeiten auf wenige Monate im Jahr.
Um das Tageslicht voll auszunutzen, wird von Sonnen­aufgang bis Sonnenuntergang gearbeitet. Mitunter auch noch nach Einbruch der Dunkelheit - beim Schein von Petroleumlampen, die unruhig flackernde Schatten an die Wand werfen. Von den Tischen hört man das rhythmische Schlaggeräusch, dazwischen quietschende Schubkarren und die knappen Kommandos des Capo.

Die Schlafplätze der Ziegelarbeiter befinden sich - schon aus praktischen Gründen - direkt im Werksbereich. Die Ruhezeiten sind ohnehin wesentlich kürzer als die Ar­beitszeit, zudem muss der Brennvorgang permanent über­wacht werden. Selten gibt es eigene Wohnbaracken, meist werden einfach unterm Dachstuhl der Trockenstädel, spä­ter über dem Ringofen Strohsäcke und Decken ausgelegt.
Werkskantinen gibt es kaum, vor allem nicht in den kleine­ren Betrieben. Also Polenta, in großen Kesseln von den Arbeitern jeden Abend selbst gekocht, dazu Hartkäse. Die Lebensmittel erhalten sie vom Akkordanten - in der Regel eher zuwenig als zuviel, manchmal muss sogar am Salz gespart werden. Zwar gäbe es guten Käse, Salami oder an­dere heimatliche Lebensmittel von fahrenden italieni­schen Händlern zu kaufen. Doch derlei zusätzliche Auf­wendungen - die Verpflegung wird ja indirekt bereits auf den Lohn ausgerechnet -  sind nicht immer und nicht je­dem möglich.
Wenn sich Anfang Oktober die ersten Nebel übers Land legen und die feuchte Luft den Ton nicht mehr richtig trocknen lässt, nähert die Saison sich dem Ende. Abends wird über Reiserouten, Bahnstationen und Zugfahrpläne gesprochen und beim Fachsimpeln scheint die Rückkehr jedes Mal in greifbare Nähe zu rücken. Die Männer treffen die Vorbereitungen. Zuhause sind gerade die Trauben reif und zur Weinlese steht ein großes Fest bevor, bei dem sich die Heimkehrer aus der ganzen Gegend wieder treffen.

Anmerkung:
Siehe dazu Martin Ortmeier (Hg.), Per Handschlag – Die Kunst der Ziegler, Verlag Passiva Passau.

Dr. Ortmeier ist Leiter des Freilichtmuseums in Massing, das Buch erschien nach der gleichnamigen Ausstellung von 1993